Fragt man nach dem bekanntesten Gespenst der Literatur der Neuzeit, so dürfte die Antwort leichtfallen: Schnell denkt man an den Geist des ermordeten dänischen Königs, der in Shakespeares Tragödie Hamlet seinen Sohn heimsucht und ihn dazu auffordert, seinen Tod zu rächen. Wendet man den Blick hin zur Neueren deutschen Literatur, so fällt jedoch ebenso schnell auf: Auch hier bekommen wir es mit einer Vielzahl von Texten zu tun, in denen es ‚spukt‘. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs ausschließlich um klassische Schauergeschichten. In der Lyrik von Gotthold Ephraim Lessing bis Annette von Droste-Hülshoff begegnen uns Gespenster, ebenso im Realismus des 19. Jahrhunderts (so etwa bei Theodor Storm), im naturalistischen Drama (Henrik Ibsen), aber beispielsweise auch in der Literatur der Gegenwart (Kathrin Röggla, Judith Hermann).

Gespenster zeigen sich uns dort als unheimliche Zwischenwesen zwischen Leben und Tod, die ihre Nachwelt heimsuchen: Ihr Auftreten ist unnatürlich und unerwartet – wo sie herumspuken, da gehören sie nicht hin. Auf diese Weise können sie gerade für die Analyse literarischer Texte von zentraler Bedeutung sein, wird hiermit doch etwas thematisch, das aus der (erzählten) Welt herausfällt, das eine Paradoxie präsentiert: Gespenster werden begriffen als anwesende Abwesenheit, als eine Figur der Virtualität und Latenz oder als Reflexionsfigur von Esoterik sowie Über- bzw. Widernatürlichem.

So soll im Seminarverlauf unter anderem thematisiert werden, was dem Begriff des Gespensts im metaphorischen Gebrauch anhaftet (etwa in der Lyrik), wann in Erzähltexten Gespenster als Reflexionsfigur einer sich wandelnden Medialität auftauchen, gar mit realistischer Emphase behauptet werden, oder wie das Gespenst als Figur in dramatischen Texten auftritt.

Die Textanalyse-Seminare im „Aufbaumodul I, Neuere deutsche Literatur“ vertiefen und erweitern die im Basismodul erworbenen Grundkenntnisse. Ausgehend von dem spezifischen thematischen Fokus ‚Gespenster‘ steht die Auseinandersetzung mit literarischen Verfahren in Gedichten, Dramen und erzählender Prosa im Vordergrund des Seminars.