Die Abgrenzung gegenüber dem „großen Bruder” Russland gehört nicht nur
in der Politik, sondern auch im Bereich der Literatur zu einem festen
Ritual der ukrainischen Selbstbestimmung. Man könnte behaupten, dass sie
in der Literatur ihren Anfang nimmt und sogar kulminiert. „Zwischen
Gogol und Sevcenko” (1998) lautete der bekannte Buchtitel des
ukrainisch-kanadischen Literaturwissenschaftlers Jurij Luc’kyj, der
damit den Übergang von einem imperial-subalternen zu einem
eigenständigen Nationalbewusstsein sehen sollte. Mykola Rjabcuks „Vid
Malorosiї do Ukraїny” setzte Luc’kyjs Vision fort, um damit auch die
Transformation von einer peripheren „kleinrussischen” zu einer
ukrainischen politischen Identität zu illustrieren. So drängend das
Bedürfnis nach mimetischen Äquivalenzen zwischen der eigenen
Staatstradition und Kultur bzw. Literatur, vermag es kaum die engste
ästhetische bzw. poetische Verflechtung beider Kulturen zu verdecken.
Vom Gründungstext der modernen ukrainischen Literatur, der burlesken
Travestie von Vergils „Aeneis” von Ivan Kotljarevs’kyj (1798) über den
„Vater der Nation” und „Kobzaren” Taras Sevcenko, Lesja Ukraїnka, Mykola
Chvyl’jovyj, Jurij Andruchovyc, Oksana Zabuzko bis Serhij Zadan – die
Spuren der russischen Literatur in der ukrainischen sind trotz aller
nationalen Abgrenzungen und Exorzismen allgegenwärtig. Mithilfe diverser
Konzeptualisierungen des Verhältnisses zwischen beiden Kulturen (z. B.
„littérature mineure” von Gilles Deleuze/Felix Guattari) werden wir
zunächst die Funktionalisierung der ukrainischen Literatur als
Teilsystem der russischen, aber auch als autonomen ästhetischen Bereich
bestimmen. Dabei wird es um die Frage gehen, inwiefern eine monolinguale
bzw. monokulturelle Auffassung der ukrainischen Literatur und Kultur
dem multikulturellen – ukrainischen, russischen, polnischen, jüdischen
etc. – Charakter der Ukraine überhaupt angemessen ist, und die
Pluralisierung des ukrainischen Kultur- und Literaturkanons nicht
Antworten auf die brennenden politischen Fragen der Gegenwart bergen
könnte.
- Dozent/in: Roman Dubasevych