Obwohl der Umgang mit dem Fremden und Anderen eines der Hauptthemen der Geisteswissenschaften – von der Philosophie, Ethnographie, Psychoanalyse bis zur Literatur- und Kulturwissenschaften – ist, erschienen erst in den 1990er Jahren die ersten interdisziplinären Gesamtdarstellungen der Alterität in Form eines Readers. Doch die Beschleunigung der Globalisierung, Migrations- und Flüchtlingsbewegungen nach dem Ende einer bipolaren Welt machten die interkulturelle Kompetenz zu einem zunehmend wichtigen Bestandteil einer universitären Ausbildung, wenn nicht zu einer kritischen Schlüsselqualifikation in einer Welt der Spät- bzw. Postmoderne, die immer wieder durch Kriege, wirtschaftliche und ökologische Desaster erschüttert (werden) wird. Der Mangel an einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Thema ist besonders in der Slawistik spürbar, und das obwohl Osteuropa schon immer eine kulturelle Transit- und Kontaktzone zwischen Ost und West, Nord und Süd war, ganz zu schweigen von den zahlreichen slawischen Diasporas, die weltweit, darunter auch in Deutschland, entstanden sind. In unserem Seminar werden wir uns mit dieser Lücke beschäftigen und die wichtigsten Ansätze der Alteritätsforschung kennenzulernen. Dabei wird die aktuelle Theoriedebatte mit einer breiten Palette kultureller Phänomene aus Osteuropa kombiniert und veranschaulicht. Von den Reiseberichten des Sentimentalismus (Nikolaj Karamzin) und Positivismus (Henryk Sienkiewicz), über Klezmermusik, Rock-n-Roll oder Hip-Hop – die osteuropäische Geschichte war nicht nur ein Raum intensiver interkultureller Begegnung, Übersetzung und Hybridisierung, sondern reich an eigener Theorieentwicklung (Michail Bachtin, Bronislaw Malinowski, Juri Lotman, Zygmunt Bauman) in einer zunehmend plurizentrischen globalen Welt.