In der Literaturgeschichte spielen Figuren, die wir im modernen Sprachgebrauch als ‚behindert‘ bezeichnen, eine prominente Rolle: mal abgrundtief böse, mal herzallerliebst, verweist die Darstellung ihrer besonderen Körperlichkeit beinahe immer auf Besonderheiten ihres psychischen Innenlebens. Physiognomie und Charakter werden in literarischen Texten oftmals zusammengedacht: wer körperlich ‚anders‘ ist, ist auch charakterlich ‚ausgezeichnet‘, und aus diesem Wechselspiel entsteht narratives Potential. Unterstellte Normalität und Abweichung haben auch eine geschlechtliche Dimension, welche die Dinge zusätzlich verwickelter werden lässt. Ausgerüstet mit einigen rudimentären Theorie-Werkzeugen aus den Baukästen der gender studies und der disability studies (Stichwort: Intersektionalität) werden wir uns ansehen, wie behinderte Figuren in der deutschsprachigen Literatur dargestellt werden und welche Rückschlüsse auf das gesellschaftliche Verständnis von Körper, Geschlecht und Literatur sich daraus ziehen lassen. Unsere Leseliste reicht dabei von der deutschen Romantik (E.T.A. Hoffmann, Friedrich de la Motte Fouqué) über den bürgerlichen Realismus (Theodor Storm, Theodor Fontane) über die Literatur der Jahrhundertwende (Thomas Mann, ) und der Moderne bis in die unmittelbare Gegenwart (Sibylle Berg u.a.).