Spätestens nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sollte das vereinte
Europa ein weltweites Beispiel der Toleranz, politischer und
wirtschaftlicher Stabilität und friedlicher Koexistenz verschiedener
Kulturen abgeben. In der Tat herrschte zumindest die ersten zwanzig
Jahre nach der Wende eine große Euphorie über die Öffnung seiner
Grenzen, die Vereinigung Deutschlands, aber auch über den bescheidenen
Wohlstand in den ehemaligen Ostblockstaaten. Die Essays von Andrzej
Stasiuk und Jurij Andruchovyc, die Filme von Emir Kusturica oder
Stanislaw Mucha zelebrierten (und ironisierten!) die neue kulturelle
Situation, Szenelokale und Discos europäischer Metropolen brummten vor
Balkan-Punk-Rock und Klezmer-Musik. Dennoch zeigten die Rückkehr
autoritärer und nationalistischer Politiker in Ungarn, Polen und
Russland, der Aufstieg der „neuen Rechte“ in Österreich, Niederlanden
und Deutschland, dass die teuer bezahlten Lehren des zwanzigsten
Jahrhunderts – zwei Weltkriege, Holocaust und Totalitarismen – von
begrenzter Wirkung waren. Dabei kann die Parade neuer Populismen nur
bedingt mit wirtschaftlicher Stagnation oder Desillusionierung über die
schwerfällige Demokratie erklärt werden. Sie hat auch mit dem Erbe des
Nationalismus und der Xenophobie, mit reellen und erfundenen
historischen Traumata zu tun, aber auch mit neuen Herausforderungen der
Globalisierung und Migration. In unserem Seminar werden wir die
wichtigsten Theorien kennenlernen, die den Umgang mit dem Fremden und
Anderen Europas thematisieren. Um der Suche nach den Schlüsseln für die
„Festung Europas“, wenden wir uns dem reichen Erfahrungsschatz
Osteuropas zu, das seit Jahrhunderten eine kulturelle Transit- und
Kontaktzone zwischen Ost und West, Nord und Süd war.
- Dozent/in: Roman Dubasevych