Für das Weltkulturerbe sind die Errungenschaften der russischen Zivilisation unbestritten: Die großen Epiker des 19. Jahrhunderts Lev Tolstoj und Fedor Dostojevskij, die Wegbereiter der Moderne und Dramatiker Anton Cechov, Maxim Gor’kij und Michail Bulgakov, die Komponisten Petr Cajkovskij, Sergej Rachmaninov, Igor’ Stravinskij, Dmitrij Sostakovic und zahllose Kulturschaffende und Wissenschaftler*innen haben einen großen Beitrag zum Humanismus und Fortschritt geleistet. Zugleich war die große russische Kultur aufs Engste mit der Gründung eines der größten kontinentalen Reiche Europas und der Realisierung eines totalitären linken Projekts verbunden. Entgegen (naiven) Erwartungen war diese Hypothek mit der Auflösung der Sowjetunion und des Sozialismus keineswegs erledigt. Vielmehr erwies sich die Verbindung von Macht und Kultur als sehr hartnäckig und bildete überraschenderweise die Grundlage für revisionistische Politik unter dem autoritären Langzeitpräsidenten Vladimir Putin. Die Instrumentalisierung der russischen Zivilisation zu machtpolitischen Zwecken erreichte ihren Höhepunkt im Ukraine-Krieg, der neben geopolitischen Argumenten mit der Verteidigung von „russkij mir“ („der russischen Welt“) legitimiert wurde. In unserem Seminar werden wir uns mit den historischen, geopolitischen und geopoetischen Dimensionen dieses Konzepts, seiner erstaunlichen Lebensdauer sowie mit ukrainischen Reaktionen darauf auseinandersetzen.