Die Begriffe wie Freiheit und Selbstbestimmung stehen im Zentrum der
modernen liberalen Demokratien, aber in keiner der westeuropäischen
Kulturen der Gegenwart werden sie so gross geschrieben wie im heutigen
Polen und in der Ukraine. Die Konjunktur des Freiheitsbegriffs hat zum
Einen mit aktuellen Ereignissen wie dem russischen Angriffskrieg, zum
Anderen – mit historischen Erfahrungen zu tun, die polnische und
ukrainische Gesellschaften im „langen” imperialen 19. Jahrhundert (E.
Hobsbawm) prägten. In unserem Seminar werden wir den Spuren der Imperien
– des russischen, deutschen oder habsburgischen – in der Kultur dieser
Länder nachgehen. Von Adam Mickiewicz bis Dorota Maslowska, von Ivan
Kotljarevs’kyj bis Serhij Zhadan – anhand exemplarischer Texte und Filme
aus dem kulturellen Kanon werden wir die komplexen Interaktionen
zwischen dem Imperium und seinen Subalternen entdecken. Dabei werden wir
uns mit der Frage beschäftigen, ob die hegemonialen Zentren
ausschließlich „Dämonen” und Peripherien nur „Engel” produzierten, oder
ob die imperialen Erfahrungen neben der Assimilation auch Integration
und Austauschprozesse in Gang setzten, von denen die Subalternen auf
vielfältige Weise, einschließlich der Suche nach ihrer Selbstbestimmung
und Handlungsmacht (subjectivity) profitierten. Unter diesem
Gesichtspunkt stellen gerade die jüdischen Autoren wie Karl-Emil
Franzos, Józef Wittlin, Isaak Babel oder Joseph Roth eine besonders
interessante Gruppe dar, die trotz aller Unterdrückung und
Marginalisierung in einen sehr produktiven Dialog mit metropolitanen und
fortschrittlichen Elementen der imperialen Kulturen trat.
- Dozent/in: Roman Dubasevych