Ein Fuchs namens Reynke wird vor Gericht geladen, denn die Tiere haben ihn des Mordes angeklagt. Reynke wird zum Tode verurteilt, weiß sich aber zu retten – mit seiner Redekunst und durch ebenso listiges wie skrupelloses Handeln. Das mittelniederdeutsche Tierepos „Reynke de Vos“ – 1498 in Lübeck gedruckt – knüpft an diese Ausgangssituation zahlreiche Episoden, in denen im Rahmen eines Gerichtsprozesses diverse Tierfiguren (Löwe Nobel, Kater Hyntze, Dachs Grymbart, Wolf Ysegrim u.a.) agieren und mit Anklage- und Verteidigungsreden hervortreten. Der Text verbindet dabei verschiedene (Binnen-)Erzählungen und Handlungsstränge zu einem komplexen narrativen Gefüge. Den erzählenden Passagen in Versform stellt der Lübecker Druck, darin seiner flämischen Vorlage folgend, zudem zahlreiche ausdeutende ‚Glossen‘ in Prosa an die Seite, weiterhin fügt er 89 Holzschnitte hinzu, die das Epos zusätzlich gliedern und kommentieren.

Auf Grundlage einer Version der mittelniederländischen ‚Reynaerts historie‘, die ihrerseits auf französische Tierepik des späten 12. Jahrhunderts zurückgeht, entfaltet der Text eine beißende Satire der Ständeordnung und ihrer Akteure. Ursprünglich als Fürstenspiegel angelegt, verschiebt sich im Lübecker Druck der Fokus auf eine erbauliche Funktion für ein städtisches Publikum. Die im Text dargestellte Gesellschaft erscheint dabei in deutlich kritischem Licht: Die meisten der Figuren fallen durch niedere und eigennützige Motive sowie durch arglistiges und gewaltsames Handeln auf, insbesondere der Protagonist selbst, trotzdem gelten ihm die Sympathien der Erzählung. Der ‚Reynke de Vos‘ hat im nieder- und im hochdeutschen Sprachraum durch Nachdrucke, Übertragungen und Neubearbeitungen bis hin zu Gotsched und Goethe gewirkt.