Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine löste eine heftige Debatte über den Zusammenhang zwischen russischer Kultur und Gewalt aus. Schockiert über die brutale Vorgehensweise der russischen Truppen erhoben vor allem ukrainische Intellektuelle, Aktivist*innen und Politiker*innen schwere Vorwürfe nicht nur gegen das autoritäre Regime von Vladimir Putin, sondern gegen die russische Kultur als Ganzes, die sie dann für das Bombardement ukrainischer Städte sowie Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung für verantwortlich erklärten. Häufig werden diese Vorwürfe mit Forderungen zum Boykott russischer Kulturinstitutionen oder Künstler*innen begleitet. Der besondere Zorn richtete sich dabei gegen den russischen Kulturkanon, der als Weltkulturerbe anerkannt ist und großes Ansehen genießt. Prominente ukrainische Autoren wie Jurij Andruchovyc sahen sich gezwungen, an die angebliche Faszination von Josef Goebbels mit Fedor Dostojevskij zu erinnern. Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Serhij Zadan prangerte dagegen die Wirkungslosigkeit russischer Schullektüre von Anton Cechov oder Lev Tolstoj bei der Neutralisierung des russischen Militarismus an und erklärte die russische Kultur sogar zu einer „antycyvilizacija”. So sehr das gewaltsame Vorgehen russischer Truppen gegen das eng verwandte Nachbarland überraschte, war die Diskussion über den Zusammenhang zwischen Gewalt und Kultur nicht neu. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg bestand die Aufarbeitung der national-sozialistischen Vergangenheit nicht nur in der Aufklärung über die Nazi-Verbrechen, sondern auch in einer kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Kulturtradition – dem Erbe des deutschen Idealismus und Irrationalismus oder Figuren wie Richard Wagner, Friedrich Nietzsche oder Martin Heidegger. In unserem Seminar werden wir zentrale Etappen dieser Diskussion diskutieren, mit neusten Impulsen aus der Postkolonialen oder feministischen Theorie und mit dem gegenwärtigen Krieg in Verbindung setzen.

Teilnahmevoraussetzungen: Referat und regelmäßige Teilnahme; Kenntnisse osteuropäischer Sprachen sind nicht erforderlich.