Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine löste nicht nur eine hitzige Kontroverse über den Status der russischen Kultur in der globalen Öffentlichkeit aus, sondern offenbarte eine große Lücke in Bezug auf die ukrainische Kultur. Ihre mangelnde Kenntnis wurde sogar für die tiefe militärische und politische Krise mitverantwortlich erklärt, die zumindest aus ukrainischer Sicht durch Ignoranz gegenüber ukrainischen (und polnischen) Erfahrungen mit dem östlichen „Big Brother” und den daraus folgenden Warnungen verursacht wurde. Während die Bekanntschaft mit dem Leid und mit Empfindlichkeiten der russisch-imperialen Subalternen ein wichtiges Ziel des Seminars darstellt, möchte sein zweites die Konstanten und Dynamiken des ukrainischen Kulturkanons erfassen. Dabei könnte die vom ukrainisch-australischen Literaturwissenschaftler Marko Pavlyshyn 1993 geschaffene Formel „Kanon oder Ikonostas” einen wichtigen Ausgangspunkt liefern. Die Spannung zwischen Schutz und Sakralisierung der ukrainischen Kultur (und Sprache) auf der einen Seite und der Notwendigkeit ihrer Öffnung und kritischer Erneuerung auf der anderen wurde bereits zu Beginn der ukrainischen Unabhängigkeit als eine ihrer typologischen Dominanten wahrgenommen. Sie vermag ebenfalls überraschende Einblicke in die Dynamik nicht nur des ukrainischen Kanons, sondern auch des gegenwärtigen Konflikts zu gewähren.

Teilnahmevoraussetzungen: Referat und regelmäßige Teilnahme; Kenntnisse osteuropäischer Sprachen sind nicht erforderlich.