Vorbereitet durch das naturalistische Theater, das Ende des 19. Jahrhunderts mit der Eröffnung ‚freier Bühnen‘ die Verabschiedung des bürgerlichen Illusionstheaters eingeleitet hatte, entstehen während der Weimarer Republik Theaterformen, die sich konsequent von der Einfühlungsästhetik des Lesedramas entfernen. Im Fahrwasser moderner Avantgarden loten sie die Möglichkeiten der Bühne aus, um soziale Themen und gesellschaftliche Umbrüche zu verhandeln. Dabei wurde nicht nur die Form des Dramas etwa im Sinne des epischen Theaters neu gedacht, auch der Theaterraum diente als Experimentierfeld, wo Regisseure teils neuartige Bühnentechniken wie die Dreh- und Simultanbühne oder den Einsatz filmischer Elemente erprobten. Ähnlich wie die Arbeiten von Bertolt Brecht und Erwin Piscator, die das epische Theater zuerst als ein politisches und zeitkritisches Theater definierten, waren während der Weimarer Republik grundsätzlich so genannte „Zeitstücke“ virulent, die in ihrem Gegenwartsbezug der Entwicklung der Zeitung zum Massenmedium Rechnung trugen. Neben der Erneuerung des Volksstücks machten im Berlin der 20er Jahre außerdem Stücke von sich reden, die Elemente populärer Theaterästhetik neu interpretierten, wie etwa Formen des Kabarett oder der Revue.

Wir werden uns dieser theaterhistorischen Phase im Seminar vor dem Hintergrund der Avantgarde-Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts nähern und ihre ästhetischen wie medialen Spezifika durch die Lektüre sowohl von Dramen als auch von theoretischen Positionen erschließen. Gelesen werden Texte von Bertolt Brecht, Erwin Piscator, Ernst Toller, Carl Zuckmayer, Marieluise Fleißer, Ödön von Horváth und anderen.