„Aller Ekel ist ursprünglich Ekel vor dem Berühren“, schreibt Walter Benjamin. Der Tastsinn kann eindringliche körperliche Erfahrungen auslösen, führt in der Geschichte der Sinne aber ein Schattendasein und stand lange Zeit hinter dem Sehsinn zurück. Im Unterschied zum distanzierten Sehsinn, der das Imaginationsvermögen anregen soll, galt er zumeist als niederer Nahsinn, der aus der Ästhetik ausgeschlossen wurde. In gattungsästhetischen und philosophischen Debatten des 18. Jahrhunderts erfährt er jedoch eine Rehabilitierung. Vom Tasten verspricht man sich jetzt einen besonders intensiven Zugang zur Realität. In dem Seminar werden wird diese Debatten verfolgen und uns ausgewählten literarischen Texten zuwenden, in denen der Tastsinn und seine Sinnesorgane, etwa Hand und Haut, eine besondere Folge Rolle spielen (u.a. von Eichendorff, Heine und Büchner, Stifter, Rilke bis hin zu Heiner Müller). Der Bereich des Tastens umfasst hier sowohl das aktive Ergreifen als auch das passive Ergriffenwerden, eine körperliche Sinneserfahrung und ein inneres Gefühl. In literarischen Texten werden diese Vieldeutigkeit und das metaphorische Potenzial des Tastens offenkundig. Insbesondere die Literatur des Vormärzes spielt die sinnliche Wahrnehmung des Tastens gegen abstrakte Zugänge zur Wirklichkeit, das Ergreifen gegen das Begreifen aus und nimmt darüber hinaus die Funktion in den Blick, die taktilen Erfahrungen und Berührungsverboten im Bereich des Sozialen und Politischen zukommt. Zu einzelnen Sitzungen werden Mitglieder des DFG-Netzwerkes „Berühren. Literarische, mediale und politische Figurationen“ eingeladen.
- Dozent/in: Andrea Erwig-Haselbeck