Während die Kulturwissenschaften noch vor zwanzig Jahren als enfant terrible
der deutschen Geisteswissenschaften galten und häufig mit Landeskunde
für Fortgeschrittene verwechselt wurden, lässt sich heutzutage ohne
dieses Stichwort kaum ein geisteswissenschaftliches Seminar denken. In
unserer Veranstaltung werden wir den Ursachen dieser intellektuellen und
institutionellen „Pandemie” auf den Grund gehen. Eine davon ist
sicherlich die Wandelbarkeit (und Unersättlichkeit) des
kulturwissenschaftlichen „Virus”, der einerseits disziplinäre „Genome”
der traditionellen Geisteswissenschaften (Literaturwissenschaft,
Psychoanalyse, Philosophie) aufnahm als auch maßgeblich durch die
Soziologie, Medienwissenschaften, Theorien der Postmoderne modifiziert
wurde. Das Rätsel ihrer Faszination liegt sicherlich im
kulturwissenschaftlichen Habitus zur Überwindung nicht nur disziplinärer
Gräben, sondern auch denen zwischen der Alltags-, Pop- und Hochkultur.
Denn für Kulturwissenschaftler beginnt ihre Disziplin nicht (nur) in der
Bibliothek, im Konzertsaal oder Kulturfeuilleton, sondern häufig in der
Straßenwerbung, in den Musik- und Sprachfetzen aus dem Radio oder
Supermarkt, aber auch im Menü aus einem nahegelegenen Lokal. Zugleich
bedeutet der kulturwissenschaftliche Blick keine Suche nach exotischen
Verbindungen oder Kuriositäten, sondern sieht die Kultur als Macht, die
alle Lebensbereiche – von den höchsten politischen Ämtern bis zum
Filmprogramm aus dem lokalen Kino oder Sportangebot des Unisports
strukturiert. In unserem Seminar werden wir nicht nur den Kanon
kulturwissenschaftlicher Theorien und Begriffe wie Text, Macht,
Hegemonie etc. kennenlernen, sondern versuchen, sie an Beispielen aus
Osteuropa und aus dem Ostseeraum zu testen. Ein besonderes Augenmerk
wird der postsozialistischen Situation der analysierten Kulturen gelten.
Einerseits werden sie dadurch für dem dezidiert kapitalismuskritischen
Blick der Kulturwissenschaften zugänglich, andererseits verlangen die
entsprechende Anpassung bzw. Glokalisierung kulturwissenschaftlicher
Theorieansätze.
- Dozent/in: Roman Dubasevych