»The next song is about the multiple inner chaosses leading to creativity«, leitet Meshell Ndegeocello den Song »Clear Water« auf einem Konzert ihrer Tour im Jahr 2024 ein und fügt lächelnd hinzu, »you know chaos is a feminine thing, if you believe in those binaries«. Was folgt ist eine bassorientierte, rockige und zugleich stimmlich und spieltechnisch höchst ausgewogene Performance des Songs in einem Ensemble, von dem die auf der Bühne sitzende und Sonnenbrille tragende Bassistin und Sängerin nur ein integraler Teil ist. Ausgewogenheit und Solidarität innerhalb der Band als Kollektiv statt Unterdrückung von Minderheiten anhand geschlechtlicher, rassistischer, gesellschaftlicher oder kultureller Dichotomien strahlt Ndegeocello nicht nur auf ihren Konzerten aus, sondern sie beschäftigt sich damit auch historisch auf ihrem kürzlich erschienenen Album No More Water. The Gospel of James Baldwin (Blue Note Records 2024).   

Im Seminar werden dieses und weitere Beispiele des 20. Jahrhunderts im Hinblick darauf untersucht, was für Einblicke sie uns in eine Geschichtsschreibung geben können, die der gegenwärtigen Pluralität unserer postmigrantischen Gesellschaften gerecht wird. Was sagen musikalische Arbeiten über dialogische Verflechtungen unterschiedlicher Geschichten, über die Darstellungen von Kollektiven jenseits von Machtbeziehungen oder über die Dialektiken zwischen Sprechenden und Zuhörenden aus? Welche Potentiale hat Musik, die unterschiedlichen Möglichkeitsspektren von historischen Ereignissen auszuleuchten, die von einer linearen Geschichtsschreibung im Kollektivsingular meistens vernachlässigt werden? Die Reflexionen darüber beginnen schon recht früh, z.B. mit Günther Anders' Beschreibung der Werke Alban Bergs als "Nachhut der Geschichte" (1954), sie gehen dann weiter über Jacques Rancières Ausführungen zu einer Geschichtspoetik, die mit Erfahrungen von Sichtbarkeit und Hörbarkeit zu tun hat und reichen bis hin zu aktuellen geschichtstheoretischen Überlegungen, in denen Kunst und Musik wichtige Rollen spielen (Achim Landwehr 2016 und 2020). Musikalische Werke, Arbeiten und Songs stehen ihnen in nichts nach: Von Alban Berg über Luigi Nono und Helmut Lachenmann bis hin zu zeitgenössischer Musik, Musik sog. 'Gastarbeiter:innen', Rap, Jazz oder Neosoul spielen erweiterte Möglichkeitsspektren, Solidarität und Kollektive als Kritik herkömmlicher Geschichtskonzeptionen eine große Rolle. Zentrale Frage des Kurses wird sein, wie sich diese lokalen Pluralitäten "at home" von einer Geschichtskritik absetzen, die von der globalen Musikgeschichtsschreibung geäußert wurde.