Ota Filip kombiniert in seinem ungewöhnlichen Essay „Der Wenzelsplatz. Große Geschichte und kleine Nebengeschichten” eigene Erinnerungen auf überraschende Weise mit kunstvoll zusammengefügten Bruchstücken aus verschiedenen Epochen der tschechischen und böhmischen Geschichte. Im Seminar wollen wir uns dem Wenzelsplatz und seinen architektonischen Highlights als Erinnerungslandschaft zuwenden, die aus verschiedenen sich überlagernden Schichten zusammengestellt ist. Wir setzen dabei einen Schwerpunkt im 19.-20. Jahrhundert und gehen zunächst auf mit der sog. „Nationalen Wiedergeburt” verbundene geschichtlich übergreifende Diskurse und ihre erinnerungspolitischen Herausforderungen ein. Unser Blick richtet sich auf das 1818 errichtete Böhmische Landesmuseum, das mit der in ganz Europa u.a. auch von Goethe bewunderten Grünberger, bzw. Königinhofer Handschrift zum „Tatort” identitätsstiftender Geschichtsfälschungen wird. 1848 trafen sich an diesem Ort die Entsandten des Slawenkongresse, die unter dem Vorsitz von Frantisek Palacký variantenreich über die Lage von Tschechen und Böhmen im Habsburger Vielvölkerreich debattieren. Der parallel dazu ausbrechende Pfingstaufstand gegen die Habsburger Herrschaft wird allerdings ebenso niedergeschlagen wie andere Aufstände und im Jahre 1968 die Erneuerungsbewegung des Prager Frühlings. Erst die Samtene Revolution kann diesen circulus vitiosus durchbrechen. Für alle, die daran interessiert sind, Spannungsbögen zwischen offizieller Geschichtsschreibung und individuellen und kollektiven Erinnerungskonstrukten auszuloten.